Medizinnobelpreis 1971: Earl Wilbur Sutherland

Medizinnobelpreis 1971: Earl Wilbur Sutherland
Medizinnobelpreis 1971: Earl Wilbur Sutherland
 
Der Amerikaner erhielt den Nobelpreis für »seine Entdeckungen über die Wirkungsmechanismen von Hormonen«.
 
 
Earl Wilbur Sutherland, * Burlingame (Kansas) 19. 11. 1915, ✝ Miami (Florida) 9. 3. 1974; ab 1953 Professor an der Western Reserve University in Cleveland (Ohio), ab 1963 Leiter der Abteilung für Physiologie an der Vanderbilt University in Nashville (Tennessee), ab 1973 Professor an der Universität von Miami (Florida); Arbeiten zur Wirkung und Funktion von Hormonen.
 
 Würdigung der preisgekrönten Leistung
 
In der Geschichte der Adrenalinforschung hatten Chemiker bereits zu Anfang des 20. Jahrhunderts beachtliche Erfolge vorzuweisen. Der japanisch-amerikanische Wissenschaftler Jokichi Takamine hatte das Hormon 1901 isoliert, schon drei Jahre später konnten Wissenschaftler die Substanz künstlich herstellen. Damit war es zum ersten Mal überhaupt gelungen, ein Hormon synthetisch zu produzieren. Doch wie Adrenalin und andere Hormone im Köper wirken, blieb lange Zeit ein völliges Rätsel. Erst Earl Sutherland hat zumindest Teile dieses Rätsels gelöst.
 
 Adrenalin — das Stresshormon
 
Adrenalin kommt in allen Wirbeltieren und einigen Wirbellosen vor. Es hilft Mensch und Tier, die Herausforderungen ihrer Umwelt zu meistern. Denn jedes Lebewesen kommt früher oder später in Situationen, wo schnelles Handeln gefragt ist. Egal, ob die Maus plötzlich einer Katze oder der Mensch einem Löwen gegenübersteht, es gilt in Sekundenbruchteilen zu reagieren. Das blitzschnelle Abwägen zwischen Angriff und Flucht kann über Leben und Tod entscheiden. In solchen Situationen scheidet die Nebenniere Adrenalin aus. Auf bis zu 0,01 Mikrogramm pro 100 Milliliter Plasma kann die Konzentration im Blut des Menschen ansteigen. Das Hormon löst eine ganze Reihe von Reaktionen aus: Es verengt die Gefäße, erhöht den Blutdruck und beschleunigt den Herzschlag. Zusätzlich hemmt es die Darmbewegungen und erweitert die Pupillen. Alle diese Auswirkungen sollen das Reaktionsvermögen erhöhen.
 
Gehirn und Körper brauchen für rasche Handlungen Energie in Form des Zuckers Glucose. Diesen gewinnt der Organismus aus den mit der Nahrung aufgenommenen Kohlenhydraten. Nach deren Verdauung gelangt Glucose ins Blut und wird zum Teil direkt zu den Zellen transportiert, die gerade Energie benötigen. Den Rest des Zuckers speichert die Leber als so genanntes Glycogen. Diese Verbindung ist ein stark verzweigtes Riesenmolekül, das aus vielen einzelnen Glucosemolekülen besteht. Wissenschaftler nennen eine solche Verbindung ein Polysaccharid. Die Leberzellen speichern dieses Glycogen als Kohlenhydratreserve. Bei Bedarf kann es jederzeit wieder in einzelne Glucosemoleküle gespalten werden, die dem Körper dann wieder zur Verfügung stehen. Daher hängt der Glycogengehalt der Leber stark vom Ernährungszustand ab, schon während kürzerer Fastenzeiten kann der Körper einen großen Teil des Speichers aufzehren.
 
Adrenalin beeinflusst diese Freisetzung von Glucose aus Glycogen. Vereinfacht gesagt signalisiert das Hormon dem Körper: »Achtung, Stresssituation, mehr Glucose zur Verfügung stellen.« In der Folge steigt der Blutzuckerspiegel, der Organismus erhält genug Energie, um auf die neue Situation reagieren zu können. Es kostete Sutherland allerdings einige Arbeit, die einzelnen Schritte dieses Prozesses aufzuklären. Zunächst fand er heraus, dass Adrenalin ein bestimmtes Enzym aktiviert. Diese so genannte Phosphorylase löst von den Enden des Glykogenmoleküls Glucosereste und überträgt diese auf anorganisches Phosphat.
 
 Revolution in der Hormonforschung
 
Später stieß der Wissenschaftler auf eine bis dahin unbekannte Substanz, die in diesem Prozess als Zwischenprodukt auftritt. Genau diese Entdeckung sollte die bisherigen Vorstellungen von der Wirkungsweise der Hormone revolutionieren.
 
Die neue Verbindung erhielt den Namen »cyclisches Adenosinmonophosphat«, abgekürzt cAMP. Fachleuten verrät diese Bezeichnung, dass es sich um ein so genanntes Nucleotid handelt. Solche Verbindungen bestehen aus Zucker, einer Base und einem Phosphorsäurerest.
 
Adrenalin stimuliert die Leberzellen, cAMP zu bilden. Dabei hängt es sich an der Zelloberfläche an eine spezielle Bindungsstelle, den so genannten Rezeptor. Dieser Vorgang aktiviert dort das Enzym Adenylcyclase, das für die Bildung von cAMP zuständig ist. cAMP wiederum verwandelt in der Zelle die inaktive Phosphorylase in ihre aktive Form. Dieses Enzym setzt dann schließlich Glucose aus Glycogen frei. Der ganze Prozess besteht demnach aus mehreren Stufen, die von den Botenstoffen Adrenalin und cAMP ausgelöst werden. Letzteres nannte Sutherland daher den »sekundären Botenstoff« (»second messenger«).
 
Zunächst fügte Sutherland diese einzelnen Schritte zu einem Schema zusammen, das nur die Wirkung von Adrenalin erklären sollte. Doch schon Anfang der 1960er-Jahre kam ihm die Idee, dass auch andere Hormone nach dem gleichen Prinzip funktionieren könnten. Auch diese, so behauptete der Amerikaner, übten ihre Wirkungen nicht in den Zellen selbst aus. Vielmehr hängten auch sie sich an die Zelloberfläche und brächten so die Produktion von cAMP in Gang. Dieses aktiviere oder hemme dann die verschiedensten Stoffwechselvorgänge.
 
An diese Hypothese mochte zunächst kaum ein Fachkollege glauben. Im Körper wirken die verschiedensten Hormone, die eine große Palette sehr spezieller Reaktionen hervorrufen. Wie sollte eine einzige Substanz solch vielfältige Prozesse auslösen können? Doch Ende der 1960er-Jahre fanden sich mehr und mehr Beweise für Sutherlands Theorie. Eine ganze Reihe so genannter Polypeptidhormone wirkt tatsächlich von der Oberfläche der Zellen aus. Die Fachwelt hatte das Potenzial von cAMP offenbar unterschätzt. An der Zelloberfläche liegen verschiedene Rezeptoren und cAMP kann in der Zelle unterschiedliche chemische Reaktionen beeinflussen. Diese Variabilität genügt, um hochspezialisierte Hormone die unterschiedlichsten Wirkungen entfalten zu lassen.
 
 Die Bedeutung des cAMP
 
Dank Sutherlands Arbeit hatte die Wissenschaft das Grundprinzip erkannt, nach dem Hormone die Körperfunktionen regulieren. Als man die Wirkungen des cAMP verstanden hatte, konnte die Medizin auch neue Therapieansätze entwickeln, mit denen sich beispielsweise Durchblutungsstörungen des Herzmuskels behandeln lassen.
 
Überhaupt schien die Bedeutung des cAMP umso weitreichender zu werden, je mehr die Forscher darüber in Erfahrung brachten. So fand Sutherland die Substanz 1965 auch in Bakterien. Nun besitzen diese einfachen Organismen kein Hormonsystem, was also sollten sie mit dem »second messenger« anfangen? Allerdings müssen auch solche Einzeller auf ihre Umwelt reagieren. Spätere Untersuchungen ergaben, dass cAMP ihnen dabei hilft. Das Nucleotid beeinflusst mehrere Regulationsmechanismen, mit denen sich die Organismen an ihre Umgebung anpassen können. Diese Erkenntnis eröffnete der Biologie neue Perspektiven, cAMP galt nun als eine Art ursprüngliches primitives Hormon.
 
R. Knauer, K. Viering

Universal-Lexikon. 2012.

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